Auch dieser Hype ist beim Spiegel angekommen. Auf dem Titel ist zu lesen: „Der digitale Maskenball. Zweites Leben im Internet“. Rebecca Casati, Matthias Matussek, Philipp Oehmke und Moritz von Uslar haben einen fulminanten Leitartikel geschaffen!
In den Vorberichten vor dem Erscheinen der Printausgabe ist dieser Artikel in den Notizen aus der Provinz kommentiert worden:
Wie bei diesen Redakteuren nicht anders zu erwarten (die Kulturredaktion bis hinauf zu Matussek war am Werk), spielen Wirtschaft und selbst Sex eine eher untergeordnete Rolle. Stattdessen wird Second Life in einen kulturhistorischen bzw. fast schon philosophischen Hintergrund gestellt. Da wird das Prinzip der Mimesis angeführt, virtuelle Welten in einen halb-religiösen Kontext gestellt, Foucault, Baudrillard Adorno und Horkheimer bemüht. :) Lesenswert!In der Tat.
Ton Zijlstra hat in seinen Artikeln schon auf den Wert und den Hype um Secondlife aufmerksam gemacht. Untere Grafik des Spiegel gibt die Entwicklung der Userzahlen wieder.
Im Vergleich hierzu ist es sicherlich lohnend, einen Blick auf eine andere 3D Welt zu werfen. Im Vergleich zu "world of warcraft" sind die Zahlen der User von Secondlife bisher (noch) sehr gering; Die Nutzergemeinde von World of Warcraft und von Counterstrike ist (noch) etwa 3 Mal so groß. Dennoch ist das Wachstum von SL signifikant.
Die hier verwendeten Technologien, die erst in den Grundzügen ausgereift ist, lässt jedoch einige fundamentale Shifts des (online)Lebens erwarten [Kollaboration, Wissensaustausch, Präsenz]. Insofern ist die Tiefenschärfe des Leitartikels auch angemessen.
Ebenso interessant ist die medientheoretische Analyse von Peter Weibel.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Diskussion auch um virtuelle Realität in Zukunft unter besonderer Berücksichtigung von 3D Welten wie SecondLife wieder geführt werden muss.
Einige Zitate des Artikels:
Mehrere Millionen Menschen haben sich in der Internet-Plattform „Second Life“ eine neue Wirklichkeit geschaffen. Sie schlüfpen in erfundene Identitäten und leben unter ihren Masken ihre Träume aus. Jetzt mischt sich die künstliche Parallelwelt immer stärker in die Realität ein. [150]Lesens- und kaufenswert!
Das Bevölkerungswachstum im vergangenen halben Jahr: 600 Prozent. Die virtuelle Welt von „Second Life“ hat, mit 360 Quadratkilometern, mittlerweile mehr Fläche als München. [151]
Im „Second Life“, wo es im Wortsinne um „Utopia“ gehen könnte, also den legendären „Nicht-Ort“, an dem Herrschaft und Lüge aufgehoben sind, setzt sich also als Erstes das durch: die schnöde Klassengesellschaft.[151f.]
Die Schwelle zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Fiktion ist praktisch eingeebnet. [152]
„Second Life“ bedeutet den Beginn einer völlig neuen Anthropologie, eines neuen Menschenbildes. Nach dem freibestimmten Individuum der Renaissance und dem Massenmenschen des Industriezeitalters betritt nun der virtuelle Prototyp die Arena: ewig jung, ewig agil, metropolitan einsam und gleichzeitig unendlich vernetzt. [152]
Die Schatten, den die Avatare des „Second Life“ werfen, ist sehr lang. Er reicht zurück zu den Sagen der Antike, etwa zu Ovids Pygmalion, der sich eine so schöne Marmorstatue schuf, dass er sich in sie verliebte. Venus, von seinen Tränen und Bitten gerührt, erweckte sie schließlich zu wirklichem Leben.[152]
Masken, auch die digitalen, funktionieren prächtig in ihrer Ambivalenz: Sie verbergen das Ich und stellen es gleichzeitig auf andere Weise aus. Die Maske steht am Beginn der Zivilisation, der Wiege des Abendlands. In ihrer „Dialektik der Aufklärung“ beschreiben die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im listenreichen Odysseus den ersten modernen Menschen, einen, der sich vom Naturzwang emanzipieren kann, weil er das Talent zur Vorstellung hat. Er entkommt dem Kyklopen Polyphem durch die Leugnung seiner Identität.
[Einleitung zum Bericht über ein Interview mit dem Gründer von Second Life, Philip Rosedale: „Ein Treffen mit Gott“ (157)]
Dabei würde man ihm (Philip Rosedale; Max), dem genialen Erfinder und wohl folgenreichsten Weltenerschaffer und Gemeinschaftsstifter seit Moses, Karl Marx und Thomas Jefferson, natürlich gern ganz andere, die ewigen Fragen stellen, die nicht groß genug sein können [157]
Gemessen an der realen Evolution hat es die digitale sehr eilig gehabt. Von der digitalen Ursuppe zum stolz und aufrecht gehenden „Second Life“-Avatar dauerte es gerade mal knappe 30 Jahre. Am Anfang stand Pac-Man, der gelbe Einzeller, der sich seinen Weg durch die Labyrinthe der Evolution fraß, ein kleines gelbes Monster, das nur aus Maul bestand: der Ur-Avatar. In den folgenden Jahrzehnten diversifizierte sich das Schöpfungsgeschehen im Internet enorm, und längst nicht alle Mutationen überlebten. [162]
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